Covid-19 ausser Kontrolle
Written by Philipp Stirnemann on Februar 25, 2020 in Sonstiges

Sobald das Coronavirus in einem Land entdeckt wird, steigen oft in den Folgetagen die Fallzahlen explosionsartig. Dies passiert insbesondere dann, wenn die Spur des Virus verloren gegangen ist und man nicht weiss, wo und wen man testen muss. Wieso das so ist, zeigen wir an einem Beispiel. Leider zeigt sich, dass es beim Entdecken des ersten Falls schon so viele Fälle geben kann, dass es für eine Containment-Strategie bereits zu spät ist oder nur mit Extremmassnahmen möglich sein wird, die Weiterverbreitung zu begrenzen. Im vorliegenden Beispiel zeigt sich, dass bei Entdeckung des ersten Falles bereits über 4000 Menschen infiziert sind, ohne es zu wissen.

Zu dieser Zeit lag der Fokus der Berichterstattung noch auf China, Süd-Korea und Japan und diese Nachricht blieb lange unkommentiert. Doch halt mal, wo sind all die Infizierten? Einen Tag später fanden sich dann die ersten bestätigten acht Fälle und im Bloomberg folgerte entsprechend, dass die Mortalitätsrate im Iran 20% betragen würde (Beitrag unterdessen wieder gelöscht, weil offensichtlich falsch).

Die tatsächliche Mortalitätsrate ist nach wie vor unbekannt (siehe mein Beitrag zur Mortalitätsrate), weil man die wahre Rate erst wissen kann, nachdem die Epidemie überstanden oder weit fortgeschritten ist. Momentan steigt die Anzahl der Toten in China stark an, während die Neuinfektionen sinken (dies erhöht die Mortalitätsrate nach der Standard-Berechnung). Auf der anderen Seite wurde unterdessen bekannt, dass beispielsweise Kinder kaum Symptome zeigen, obwohl sie Träger des Virus sind und es generell viele Menschen mit nur leichten oder gar keinen Symptomen gibt (dieser Umstand spricht dann eher wieder für eine tiefere Mortalitätsrate als die offiziell ausgewiesene. Auch die Anzahl der bestätigten Covid-19 Fälle ist offenbar eine sehr unzuverlässige Grösse, denn es kann nur bestätigt werden, was auch gemessen wird. Man weiss ja nicht einmal, wo die vielen asymptomatischen Fälle zu suchen sind oder wo wie viele sich noch in der Inkubationszeit befinden.

Eine relativ verlässliche Zahl ist die Zahl der an Covid-19 verstorbenen Personen. Dies gilt auch für den Iran. Am Mittwoch den 19.2.2020 wurden mind. zwei Coronavirus-Tote gemeldet. Das heisst, die zwei Infizierten sind tatsächlich die einzigen: Dann läge die Mortalitätsrate bei 100%. Am andern Ende des Spektrums könnten 2000 Infizierte zu einer Mortalitätsrate von 0.1% führen. Beide Varianten ergeben zwei Tote. Die Wahrheit liegt wohl irgendwo in der Mitte.

Gehen wir nun von einer realistischen Mortalitätsrate von 2% aus, gäbe es 2/0.02 = 100 Infizierte. Das wäre jedoch nur so, wenn die Krise bereits vorbei wäre. Ist sie aber nicht, denn der Ausbruch im Iran (wahrscheinlich) befindet sich noch im Frühstadium. Wir wissen unterdessen, dass die Inkubationszeit bis 24 Tage betragen und der Virus während dieser Zeit übertragen werden kann. Das heisst, es gibt viele Personen, die noch nicht gestorben und auch noch nicht geheilt sind, aber bereits das Virus in sich tragen. Wie viele Leute sind das wohl?

Schauen wir uns folgendes, theoretisches Beispiel genauer an:

Mortalitätsrate: 2%

Inkubationszeit: 10 Tage (konservative Annahme)

Weiter nehmen wir an, eine infizierte Person (Patient Null) steckt alle 2 Tage eine weitere Person an. Also 5 weitere Personen während der Inkubationszeit. Nach der Inkubationszeit erkrankt der Patient Null und bleibt für weitere 4 Tage krank. Diese 4 Tage (Periode 6 & 7) sind auch eher eine konservative Annahme. Während dieser Zeit bleibt der kranke Patient ansteckend (eben wurde bekannt, dass sich in China 3000 Pflegekräfte infiziert haben). Am Ende dieser Periode (Periode 7) stirbt der Patient mit einer Wahrscheinlichkeit von 2% oder wird mit einer Wahrscheinlichkeit von 98% wieder gesund. Das Gesundheitssystem des Landes ist relativ schwach und so kann nur bei Toten das Virus nachgewiesen werden.

Frage: Wir beobachten einen Toten. Wie viele Infizierte sind zu erwarten?

Um diese Frage zu beantworten, konstruieren wir einen Binomialbaum, wobei ein Schritt im Binomialbaum 2 Tagen entspricht (2 Tage = 1 Periode). Die Anzahl der Infizierten wächst pro Periode nach der folgenden Reihe: 1,2,4,8 etc. Am Ende der Inkubationszeit (Periode 5) sind 16 Leute angesteckt. Nach weiteren 4 Tagen (2 Perioden) gibt es 64 Infizierte. Das ist auch der Zeitpunkt, an dem der erste Patient (Patient Null) an den entscheidenden Punkt gelangt, der über sein Leben entscheidet (sterben/geheilt sein). Er stirbt mit einer Wahrscheinlichkeit von 2% und mit einer Wahrscheinlichkeit von 98% überlebt er die Krankheit (im zweiten Fall bleibt das Virus unentdeckt). Mit grosser Wahrscheinlichkeit wird das Virus auch in Periode 7 noch nicht entdeckt.

Diagramm: Virusausbreitung

Covid-19 ausser Kontrolle - Virusausbreitung graph

Eine Periode später gibt es bereits 128 Infizierte. Patient Null ist genesen oder tot. Nun erreicht die zweite Person (die in Periode 2 vom Patienten Null angesteckt wurde) den Punkt, wo er entweder stirbt oder sich von der Krankheit erholt. Es addieren sich also nochmals 2% zur Wahrscheinlichkeit, dass man einen weiteren Toten beklagen muss (rechnerisch ist es keine Addition, aber für kleine Werte stimmt diese Aussage ungefähr). In Periode 9 kommen 2 weitere Patienten in diese Situation, in Periode 10 gibt es 4 weitere etc. Nun steigt die Anzahl der Patienten, die potenziell sterben könnten, relativ schnell.

Die Wahrscheinlichkeit, dass nun ein Patient tatsächlich stirbt und die Krankheit entdeckt wird (E), ist 1 – ND, also 1 minus die kumulierte Wahrscheinlichkeit, dass die Krankheit nicht entdeckt wird. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand stirbt und die Krankheit entdeckt wird, steigt also nach Periode 7 progressiv an. In Periode 12 besteht eine Wahrscheinlichkeit von rund 50%, dass bereits jemand gestorben ist. Zu diesem Zeitpunkt gibt es in diesem Beispiel jedoch bereits 4096 Infizierte (!), die noch unentdeckt sind.

Periode 1 Periode 2 Periode 3 Periode 4 Periode 5 Periode 6 Periode 7 Periode 8 Periode 9 Periode 10 Periode 11 Periode 12 Periode 13
Anzahl Infizierte 1 2 4 8 16 32 64 128 256 512 1024 2048 4096
Anzahl der Patienten, die sterben könnten 1 1 2 4 8 16 32
Wahrscheinlichkeit des Nichtentdeckens (pro Periode) 100% 100% 100% 100% 100% 100% 98% 98% 96% 92% 84% 68% 36%
Kumulierte W’keit des Nichtentdeckens (ND) 100% 100% 100% 100% 100% 100% 98% 96% 92% 85% 71% 48% 17%
Kumulierte W’keit des Entdeckens (E) 0% 0% 0% 0% 0% 0% 2% 4% 8% 15% 29% 52% 83%
Inkubationszeit von Patient Null
Dauer der Krankheit mit Symptomen von Patient Null

Ob dieses Beispiel die Realität nun genau abbildet oder nicht, ist letztlich nebensächlich. Was ich mit diesem Beispiel zeigen will, ist, dass beim Vorliegen des ersten Toten bereits Hunderte, wenn nicht Tausende infizierte Personen geben kann. Dies würde auch die explosionsartigen neuen Fälle in China, in Süd-Korea oder Japan erklären. Das passiert immer dann, wenn die Spur einer Infektion verloren geht und Patient Null (und alle um ihn herum) nicht weiss, dass er das Virus in sich trägt. Stösst man dann auf einen begründeten Verdacht und fängt in der Umgebung an zu testen, trifft man auf einen ganzen Haufen ungetesteter Fälle. Es ist also anzunehmen, dass im Iran – und wahrscheinlich auch in Italien – in den nächsten Tagen sehr viele weitere Fälle (Infizierte und Tote) auftauchen werden. Momentan (Mo, 24.2.2020) gibt es im Iran 61 «Confirmed Cases» und 12 «Deaths», was noch immer einer Mortalitätsrate von 20% entspricht, wenn man traditionell rechnet. Dies zeigt, dass irgendetwas nicht stimmen kann. Wenn – gemäss obigem Beispiel – ein Toter rund 4000 Infizierte vermuten lässt, dann sind es bei 12 Toten entsprechend viel mehr. Allahu Akbar!

Diagramm: Wahrscheinlichkeit, dass das Virus entdeckt wird

Wahrscheinlichkeit, dass das Virus entdeckt wird

Bisher ging man – analog der saisonalen Influenza – davon aus, dass bei warmem Wetter die Übertragung erschwert wird und so das Virus von alleine verschwindet. Ein Blick auf die Temperaturen von heute im Iran (12-26 Grad) oder in der auch stark betroffenen Metropole Singapur (ca. 26 Grad) lässt nichts Gutes erhoffen, denn offenbar verbreitet sich das Virus auch bei höheren Temperaturen ganz gut.

Unter solchen Bedingungen ist es unglaublich schwierig, den Ausbruch in den Griff zu bekommen, da man beim ersten Verdacht bereits zu spät dran ist. Es ist also möglich, dass der Kampf gegen das Virus mittels Containment bereits verloren und Covid-19 bereits ausser Kontrolle ist. Es ist zu hoffen, dass Trump uns bald mit seiner Impfung rettet.

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